Mein liebes, großes Kind,

heute müssen wir uns über ein Thema unterhalten, das für dich noch sehr neu ist. Das dein Leben jedoch ab sofort für die nächsten 10-13 Jahre in jeder Sekunde davon bestimmen wird. Und unseres auch. Genau. Richtig erraten. Es geht um die Schule.

Heute reden wir mal Klartext über diese magische Institution, von der du in deinem letzten Kita-Jahr so unglaublich viele so widersprüchliche Dinge gehört hast.

Toll wird sie sein, aber auch anstrengend. Viele neu Sachen wirst du da lernen, aber nur das, was der Lehrer dir vorgibt. Spaß wird es machen, aber du musst ruhig sitzen bleiben. Nach der Schule hast du frei, aber es wird Hausaufgaben geben. Und das Ganze gefolgt von einem: „Na, freust du dich schon drauf?“

Also ich finde, da kriegt man richtig Bock.

Mittlerweile bist du nun seit knapp zwei Monaten dabei und hast mit Sicherheit schon gemerkt – es stimmt. Und zwar alles!

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Es ist noch früh. Sehr früh. Die Sonne quält sich nur langsam hoch am Horizont, während du bereits aufgestanden bist. Und das schon nach nur fünfmal wecken! Wie dein Vater das immer wieder schafft, bleibt mir ein Rätsel. Ich versteh gar nicht, warum du so muffelig bist? Du weißt doch, dass du zur Schule musst. Also zieh dich an, geh schnell frühstücken, putz die Zähne und hop hop! Ach ja, und vergiss nicht, dich davor noch auf Corona zu testen, sonst wirst du in der Schule einen „Poppel-Test“ machen müssen. Und jetzt trödele nicht rum, sonst seid ihr spät dran und da wird das Nervenkostüm deines Vaters schnell mal zu einem Organza*-Hemdchen. (*Ein sehr feines, durchscheinendes Gewebe)

Ich persönlich finde, dass es ein echt duftes Konzept ist, übermüdete Kinder von gestressten, übermüdeten Eltern für die Schule fertig machen zu lassen. Da kommen einfach alle auf ihre Kosten. Ich bin davon überzeugt, dass so ein kindliches Gehirn vor allem dann für das neue Wissen empfänglich ist, wenn es aus dem Schlaf gerissen und von genervten Eltern unter Zeitdruck in Form gebrüllt wurde. Nach dieser morgendlichen Stress- und Adrenalin-Dosis flutscht der Schulstoff dort bestimmt nur so rein!

Um eine Ausgewogenheit über den Tag zu gewährleisten, findet ein ähnliches Prozedere natürlich auch am späten Nachmittag statt. Dann aber, um die Aufnahmefähigkeit des Gehirns für die Hausaufgaben herzustellen.

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Ach, die Hausaufgabe … Wie harmlos das Wort doch klingt.

Ja, ich weiß, dass du die Aufgabe verstanden hast. Ja, ich weiß, dass du die Lösung kennst. Ja, ich weiß, dass du nicht gerne 30 Mal das Selbe schreibst. Ja, ich weiß, dass du den Sinn davon nicht nachvollziehen kannst. Das alles weiß ich. Doch es spielt keine Rolle. Jetzt pflanz deinen kleinen Hintern auf den Stuhl und zeige mir, dass du die 6 schreiben kannst! Sehr schön. Ist ja schon beinah leserlich. Und jetzt machst du das bitte noch so 20-25 Mal! Und danach üben wir die 7!

Ist doch egal, dass du im Kopf bereits große Zahlen multiplizieren oder Wörter wie Sterntaler ohne Hilfe lesen kannst. Dass du besser mit einem Tablet umgehst als deine noch jungen Großeltern. Oder dass du in der Lage bist, eine perfekte Nachbildung verschiedenster Dinosaurier aus Lego zu bauen. Wen interessiert‘s?! Welche Rolle soll das spielen, wenn deine 3 noch immer wie eine verwirrte, krumme 9 aussieht? Also echt, Junge, reiß dich mal zusammen! Hausaufgaben heißen schließlich Hausaufgaben, weil sie Aufgaben sind, die Zuhause erledigt werden wollen. Und die du regelmäßig vergisst, im Hort zu machen, was unser beider Leben übrigens nicht unerheblich erleichtern würde. Aber nun sind wir beide hier und wir ziehen es jetzt durch.

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Ganz ehrlich, vor allem DU müsstest dir da schon ein bisschen mehr Mühe geben. Wir wissen beide, dass schreiben und auch malen nicht gerade deine Stärken sind. Wenn ich deine Schreibfähigkeit beschreiben müsste, würden wohl Wörter wie blinder Linkshänder, der mit Rechts schreiben muss, fallen. Und dabei scheint es für deine ganze Schul-Zukunft absolut unabdingbar zu sein, dass du vernünftig schreiben und malen lernst. Ich vermute, sie haben große Pläne für euch alle. Vielleicht werdet ihr ja die nächsten Monets? Oder weltberühmte Kalligrafie-Meister? Oder was weiß ich.

Ja, ich weiß, du hast außer deiner Lehrerin noch nie einen Erwachsenen gesehen, der mit einem Stift irgendwas auf Papier schreibt, na und? Das sind nun mal die Basics! Das haben wir auch schon so gelernt. Und unsere Eltern. Und auch ihre Eltern. Schon vor über 100 Jahren. Und es hat ja funktioniert. Warum sollte daran also etwas geändert werden?

Es ist ja nicht so, als würde unser Leben in allen anderen Bereichen jetzt ganz anders aussehen als vor 100 Jahren. Oh, warte… doch. Na ja, vielleicht abgesehen von der Rolle der Frauen in der Gesellschaft. Da ist zum Glück noch immer sehr vieles so, wie in der guten alten Zeit.

Und auch in diesem Punkt, finde ich, leistet die Schule gute Arbeit. Schon alleine, wenn ich an eure Bewertungstafel (!), auf der eure Mitarbeit, Leistung und Co. bewertet werden, denke, die in zwei Teile – blau und rosa – aufgeteilt ist. Einfach entzückend! So seht ihr sofort, wer ein Junge und wer ein Mädchen ist. Das ist so schön! Gott bewahre, in eurer Klasse könnte es ein nicht-binäres Kind geben. Aber das gab‘s vor 100 Jahren ja auch nicht. Also alles gut.

Doch nicht alles scheint so gut durchdacht und spaßig zu sein, wie der gut strukturierte Schulalltag. Der Pokémon-Karten-Tausch-Tag im Hort macht auf mich den Eindruck, als könnte er eure Begeisterung von den wichtigen Sachen im Leben wie der Schulstoff ablenken. Ich glaub, ich ruf da nächste Woche mal an.