„Und, hast du irgendwelche Hobbys?“ – dieser Satz dürfte wohl einer der häufigsten sein, der bei einem Smalltalk-Kennenlern-Gespräch fällt. Und nicht nur da. Laut der Bewerbungsschulung in der Neunten gehören die Angaben zu den eigenen Hobbys sogar UNBEDINGT in den Lebenslauf. Auch später im Berufsleben, allerspätestens bei alljährlichen teambildenden Maßnahmen, wird das Thema das eine oder andere Mal angeschnitten.
Es ist also kein Wunder, dass ich mich regelrecht verfolgt von diesem Satz fühle. Bereits seit meiner Kindheit. Und damals wie heute hinterlässt diese verflixte Frage in mir stets ein ganz merkwürdiges Gefühl. Irgendwas zwischen pöbeligem „was geht dich das an?“ und einem von Minderwertigkeitskomplexen triefenden „stimmt etwas nicht mit mir?“. Denn ich hatte noch nie ein richtiges und vor allem „vorzeigbares“ Hobby. Wie etwa Singen oder richtig gut Kochen oder Modeleisenbahn aufbauen oder Briefmarken sammeln oder so. Irgendwie hat es zwischen mir und den „Hobbys“ nie gefunkt … Und wenn doch, dann war unser Beziehungsstatus bestenfalls „es ist kompliziert“.
Aber nun von Anfang an.
Es begann, als ich circa 8 Jahre alt war. Ich muss ungefähr in der 3. Klasse gewesen sein. Da fing ein neues Zeitalter an. Eine neue, bis dahin vollkommen unbekannte Ära. Es war die Epoche der Freundschaftsbücher! Jede (meist weibliche) Person, die etwas auf sich hielt, besaß eins. Eins mit Glitzer besetzt. Eins mit coolen Stickern drauf. Eins, das ganz besonders viel über die Inhaberin/den Inhaber aussagte. Eins, das ganz individuell war. Also mit ganz ganz vielen individuellen Fragen von der Stange. Und jede andere (meist weibliche) Person in der Klasse hatte die Aufgabe, diese super-duper individuellen Fragen zu beantworten. Und da jede und jeder so ein Büchlein besaß und jede und jeder die Fragen beantworten musste, glich der damit verbundene Aufwand in etwa dem Schreiben einer Doktorarbeit. Alleine was dabei an Tinte verschwendet wurde! Aber egal. Heute geht es mir weniger um den Aufwand, der, wie gesagt, einem Vollzeitjob gleichkam, sondern um die Fragen darin.
Neben den wichtigsten Fragen des Lebens, wie „Welche ist deine Lieblingsfarbe?“ und „Magst du Tiere?“, tauchten in jedem gottverdammten Freundschaftsbuch nämlich diese zwei Wörter auf, gefolgt von einem Fragezeichen: „Deine Hobbys?“. Schon als 8-jährige fragte ich mich, was genau die Leute von mir denn hören wollen? Denn Dinge, die nichts mit der Schule und Freunden zu tun hatten und mit denen ich den Großteil meiner Freizeit verbrachte, standen merkwürdigerweise in diesen Heftchen nie zur Auswahl. Weder das Unkraut jäten, noch Hof fegen oder Hühnerfüttern. Stattdessen standen da Sachen wie Lesen, Malen, Sport oder Musik drin, die ich alle fleißig ankreuzte. Und die alle gelogen waren.
Lesen? Entdeckte ich erst mit über 20 für mich. Malen? Kann ich gar nicht, hab zwei linke Daumen. Sport? Also, wenn es zählt, dass man täglich fast vier Kilometer bis zur Schule zu Fuß laufen muss, dann ja. Musik? Naja… also hören krieg ich schon hin, aber sonst … Doch es sollte sich schon bald ändern.
***
Als hätten meine Eltern die verfluchten Freundschaftsbücher gelesen (was sie vermutlich auch taten), beschlossen sie plötzlich die „Problematik“ meiner nicht vorhandenen Hobbys anzugehen und mir schleunigst eins zu verpassen. Schnell stand fest – fortan werde ich eine Musikschule besuchen (müssen). Was ich davon halte, spielte bei der Entscheidung keine Rolle. Doch ihr müsst jetzt keinesfalls Mitleid für mich empfinden. Wirklich nicht! Denn, um mir mein neues Hobby schmackhaft zu machen, haben meine Eltern sich richtig einen Kopf gemacht und ein ganz besonders cooles Musikinstrument für mich ausgewählt. Eines, das meine Beliebtheit in der Schule und später im Erwachsenenleben meine (mangels eines besseren Wortes) Sexyness garantiert ins unermessliche steigern würde. Kurz: Sie kauften mir eine Ziehharmonika.
Für diejenigen unter euch, die keine Russen sind und auch noch nie in Osteuropa waren – es handelt sich dabei um ein Ziehinstrument, das sehr einem Akkordeon ähnlich ist, nur, dass es statt Tasten runde Knöpfe hat. Ein ziemlich geiles Ding also. Oder habt ihr etwa noch nie davon geträumt, etwas spielen zu können, womit ihr ausseht wie einer von den tollkühnen Gesellen des Robin Hood in Shrek? Also ich auch nicht.

Doch das spannendste bei der Entscheidung meiner Eltern, die zweifellos von sehr hohen pädagogischen Standards zeugt, war, dass es nicht die geringste Rolle spielte, dass ich, musikalisch gesehen, nicht den kleinsten Funken Talent besaß.
Es wurde eher nach dem Prinzip gehandelt: „Was soll‘s. Schließlich kann man auch einem Waschbären das Rauchen beibringen. Alles, was man dafür braucht, ist unbedingter Wille und Zeit“. Also … naja … Zeit hatte ich. Fünf Jahre, um genau zu sein. Denn Abbrechen stand selbstverständlich nicht zur Diskussion. Schließlich habe man ja Geld für das Instrument bezahlt. Fünf wunderbare Jahre, in denen ich auf jeden Fall in jedes verdammte Freundschaftsbuch reinschreiben konnte, dass mein „Hobby“ Musik sei. Ist das nicht toll?!
***
Allmählich stellte sich mir die Frage, was ein Hobby überhaupt sei? Laut Wikipedia-Definition, die ich allerdings erst seit diesem Text hier kenne, ist ein Hobby eine Freizeitbeschäftigung, die der Ausübende freiwillig und regelmäßig betreibt, die dem eigenen Vergnügen oder der Entspannung dient und zum eigenen Selbstbild beiträgt, also einen Teil seiner Identität darstellt. Ähh… ok. Also regelmäßig war meine Beschäftigung mit der Musik schon. Aber freiwillig? Zum Vergnügen? Teil der Identität? Da konnte ich mich ja mit dem Hühner füttern mehr identifizieren!
Und so ging es weiter. Während meine beste Freundin „regelmäßig und zum eigenen Vergnügen“ Kreuzworträtsel löste oder Englisch lernte, trieb ich, fest an meine Ziehharmonika getackert, durch meine Jugend. Ohne, dass mir auch nur eine Beschäftigungsmöglichkeit begegnete, von der ich mir vorstellen könnte, sie zu meinem persönlichen Vergnügen auszuüben. Bis mein Vater mich eines Tages zu einem Angelausflug mitnahm.
Stundenlanges Sitzen am See. Permanentes Starren auf einen Punkt. Und warten, warten und nochmal warten. Es war fantastisch! Der Moment, in dem ich mein allererstes Fischlein, von der Größe eines Daumens, aus dem Wasser zog, bescherte mir so viel Freude, wie die Musikschule es in den fünf Jahren nicht ein einziges Mal geschafft hat!
Doch es gab ein Problem. Zwei, um genau zu sein. Erstens waren solche Ausflüge eher selten. Zwei-drei Mal im Jahr kann man wohl kaum als „regelmäßig“ bezeichnen. Und zweitens: selbst, wenn ich viel häufiger angeln gehen könnte, würde ich NIEMALS diese äußerst entspannende Tätigkeit jemanden gegenüber als mein Hobby bezeichnen. Nicht mit 14-15 Jahren. Nicht als Mädchen. Vermutlich generell nicht als ein junger Mensch. Denn man stelle es sich nur vor, ich würde in ein Freundschaftsbuch „Angeln mit Vati“ als Hobby eintragen! Als hätte die Ziehharmonika nicht schon genug Schaden angerichtet.
Doch es gab auch Lichtblicke.
Fortsetzung folgt …