Seit ich bei TikTok bin, habe ich etwas herausgefunden: Alle russischen Kinder, oder zumindest die, die jetzt in Deutschland leben und TikTok nutzen, wurden offenbar ALLE von DENSELBEN Eltern großgezogen! Genau. Ich hab’s auch nicht glauben wollen. Doch es ist die einzig logische Erklärung.

Ok, ok … Eine kleine Erläuterung am Rande, für diejenigen, die a) gar kein „TikiTaki“ kennen, b) es kennen, aber den Scheiß nie installieren würden, c) es installiert, aber bisher noch nie reingeschaut haben oder d) es installiert und reingeschaut haben, aber keine Russen sind und deshalb in einer vollkommen anderen Algorithmus-Blase stecken und keine Ahnung haben, wovon ich hier fasele. In dieser Video-App posten Leute lustige und lustig gemeinte Videos. Dazu gehören auch solche, in denen (erwachsene) Kinder ihre Eltern emittieren. Vermutlich versuchen sie so ihre Kindheit zu verarbeiten, ohne dafür einen Batzen Geld für einen Therapeuten ausgeben zu müssen. Wie auch immer.

Für mich war es jedenfalls ein kleiner, aber nachhaltig wirkender Schock zu sehen, dass alle russischen „Kinder“ MEINE Eltern nachmachen! Es ist erschreckend. Jeder Spruch, jeder Blick, jede „Erziehungssituation“ – alles stimmt überein. Also entweder haben alle unsere Eltern einen und denselben Erziehungsratgeber gelesen, oder … Ok, es muss einfach „oder“ sein! Denn ich weiß ziemlich genau, dass der einzige Erziehungsratgeber, den meine Eltern je in der Hand hatten, der für unseren Husky Vulkan war.

Hmm… Vielleicht sind da ja Klone im Spiel?

Aber egal. Denn obwohl ich hier bereits seit einer halben Seite schwafele, geht es mir heute gar nicht darum, dass ich offenbar, genau wie Tausende anderer Kinder, von von den Sowjets programmierten Androiden erzogen wurde, sondern darum, was mit diesen „Androiden“ nun passiert ist. Es ist nämlich noch viel unheimlicher.

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Wenn ich meine Kindheit in einem Wort beschreiben müsste, dann würde dieses auf jeden Fall „Nein“ lauten. Einfach „nein“. Das war wohl mit Abstand das prägendste Wort meiner jungen Jahre. Ausgesprochen in so ziemlich jeder Situation.

„Mama, kann ich was süßes essen?“ – „Nein.“
„Mama, kann ich Playstation spielen?“ – „Nein.“
„Mama, kaufst du mir dieses Spielzeug?“ – „Nein.“
„Mama, kann ich nach der Schule bei XY abhängen?“ – „Nein“
„Papa, kann ich am Freitag tanzen gehen?“ – „Frag Mama!“ – „Mama, darf ich?“ – „Nein!“
„ Mama, kann ich bei einem Freund übernachten?“ Ok, zugegeben, die Frage habe ich nie gestellt. Ich war doch nicht lebensmüde!

Ich denke, es dürfte deutlich geworden sein, worauf ich hinauswill. Und so war es immer, solange ich mich zurückerinnern kann.

Na gut. Natürlich muss man erwähnen, dass es sehr sehr oft nicht bei dem „Nein“ blieb. Meine Eltern waren ja keine Unmenschen. Vielleicht Androide, aber keine Unmenschen! Das „Nein“ kam halt IMMER als Erstes. Anschließend dufte jedoch eine Verhandlung eröffnet werden. Schließlich musste man ja beweisen, dass man das, wonach man fragt, auch wirklich wirklich will / möchte / braucht / sich wünscht. So ein „Ja“ kommt ja nicht von alleine. Man muss es sich schon verdienen! Zum Beispiel mit Staubsaugen, bevor man zur Freundin darf. Mit Eimerweise Himbeeren abpflücken, bevor man zum Fluss darf. Mit Geschirr abwaschen, bevor man Fernsehen gucken darf. Oder der Klassiker im Teenageralter – den Schweinestall ausmisten, bevor man zur „Disco“ darf. Dieser besonders passiv-aggressive Tribut für ein „Ja“ war bei meinen Eltern außerordentlich beliebt. Grund: Nach dem Erledigen dieser Aufgabe verzichteten sowohl mein Bruder als auch ich „freiwillig“ auf die eigentlich geplante Abendgestaltung. Denn wer mit Schweinemist schon mal in Berührung gekommen ist, weiß – gegen diesen Mief kommt weder Dusche, die wir sowieso nicht hatten, noch das stärkste Parfum an.

So waren also meine Kindheit und vor allem Jugend.

Und dann viele viele (wenn es nach meiner Mutter geht eindeutig zu viele) Jahre später bekam ich selbst Kinder. Was meine Mutter ENDLICH zur Großmutter machte. Und da passierte es.

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Aus der strengsten, in Erziehungsfragen konsequentesten Person ever wurde ein Großmütterchen. Eins, das gar nicht mehr in der Lage ist, „Nein“ zu sagen. Eins, das „aufs Wort“ hört. Eins, das vortäuscht, dass ihr Computer kaputt ist, nur um ihren Enkel nicht das Gucken von zu vielen Trickfilmen verbieten zu müssen. Eins, das jedes noch so überflüssige Spielzeug kauft. Eins, das Süßigkeiten sogar nach dem Zähneputzen noch serviert. Eins, das stundenlang bei jedem noch so langweiligen, aber aus der Sicht des Kindes tollen Spiel mitmacht. Eins, das das Kind bei Übernachtungen nicht nur in den Schlaf begleitet, sondern auch da bleibt, stundenlanges Quatschen vor dem Schlafen und ein Mitternachtssnack inklusive.

Die Konsequenz: Jedes Mal, wenn die Kinder von einem Wochenende bei Oma nach Hause kehren, sind sie praktisch auf Werkseinstellungen zurückgesetzt. Und sehr glücklich.

Und ich? Natürlich finde ich es als Mutter katastrophal, dass die Kinder noch drei Tage nach Oma-Besuch der Meinung sind, alles machen zu dürfen, wonach ihnen ist und ich sie praktisch von Null auf erziehen muss. Ich bin aber auch mit ihnen zusammen glücklich, dass sie eine so tolle Beziehung zu ihrer Oma haben.

Und ein klitzekleiner großer Teil von mir ist vor allem eins – sehr verwundert. Was ist da passiert? Ist das die Altersmilde? Womöglich Demenz? Beginnender Alzheimer? Oder altersbedingte Schizophrenie? Eine gespaltene Persönlichkeit, die erst im Alter zum Vorscheinen kommt? Wie sonst ist diese 180° Wende zu erklären. Oder ist die Antwort doch so einfach und meine Kinder sind halt VIEL liebenswerter, als ich es jemals war? Hmm … schon möglich.

Diese riesige Veränderung, die meine Mutter da in den letzten fünf Jahren durchgemacht hat, zeigt mir vor allem eins … ok drei.

  1. Nichts ist in Stein gemeißelt. Vor allem nicht die menschliche Persönlichkeit.
  2. Kinder sind magische Wesen, die uns alle, aber vor allem ältere Frauen gerne verhexen. Und …
  3. Ich bin neidisch auf meine Kinder. Wie toll wäre es bitteschön gewesen, ihre Oma als Mutter zu haben?!