Mein liebes zweites Kind,

heute muss ich dir etwas Wichtiges verraten. Vielleicht hast du es schon vermutet. Ja irgendwie geahnt. Doch nun erfährst du die Wahrheit: Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt. Schockiert? Dann wart’s mal ab, es kommt noch schlimmer. Du bist nicht einmal der Mittelpunkt meiner Welt. Denn, wie du bereits gemerkt haben dürftest, gibt es da diesen anderen. Diesen Größeren. Diesen, der schon so viel kann. Der eben vor dir da war.

Wahrscheinlich denkst du dir jetzt: „Ist doch klasse! Den Typen finde ich voll dufte! Er holt mir immer meinen Nuckel aus dem Regal und wenn ich Zähne geputzt bekomme, dann macht er witzige Faxen, sodass ich diese grauenvolle Prozedur vor lauter Lachen kaum noch mitkriege“. Doch was du nicht weißt, ist, dass genau dieser nette, witzige, vorlaute Zeitgenosse dafür sorgt, dass du permanent vernachlässigt wirst. Dir mag es noch nicht aufgefallen sein, doch ich sehe es die ganze Zeit.

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Es fing früh an. Bereits während der Schwangerschaft bemerkte ich die ersten Anzeichen für deine Benachteiligung. Oder nennen wir es eher eine Ungleichstellung von euch beiden. Während mir fast das Herz stehen blieb, als ich erfahren habe, dass ich mit deinem Bruder schwanger bin, war es bei dir mehr so ein Jepp-da-ist-er-der-zweite-Strich-hab-wohl-wieder-nen-Braten-in-der-Röhre-Erlebnis. Und das war erst der Anfang.

Während dein Vater und ich die erste Schwangerschaft damit verbrachten, dass wir Woche um Woche, (gemeinsam!) in einem Schwangerschaftsbuch blätterten, mir ständig eine Spieluhr auf die wachsende Plauze packten und uns stundenlang darüber austauschten, wie das Babyzimmer wohl aussehen wird, war während der zweiten Schwangerschaft vor allem ein Thema prägend: Wie wird wohl das Kind Nummer 1 auf das Geschwisterchen reagieren?

Schließlich waren wir ja gut vorbereitet: Zimmer? Das einzige, das frei ist. Bettchen? Das alte steht noch im Keller. Anziehsachen? Gut, dass es wieder ein Junge wird, dann haben wir ja alles. Und so geht es immer weiter. Bereite dich also schon mal ruhig darauf vor, dass du mindestens bis zum Teenageralter keine neuen, nur für dich gekauften Sachen besitzen wirst. Schließlich ist ja noch alles da. In einem guten gebrauchten Zustand. Natürlich werde ich dir auf keinen Fall für Hunderte von Euro ein neues Fahrrad kaufen, während ein funktionstüchtiges noch in der Garage steht, nur damit du auch mal was Eigenes, was Neues hast. So weit kommt’s noch! Doch ich möchte, dass du weißt, dass es mir für dich ganz schön leidtut.

Doch es sind nicht nur die Sachen und das geringere Interesse an deinem Wachstum in meinem Bauch. Auch dein Vater und ich sind dank deinem Bruder in einem, zwar noch guten, doch bereits gebrauchten Zustand. Während ich bei deinem Vorgänger also bereit war, stundenlang darauf zu warten, dass er ein kaum verständliches „saaa“ rauspresst, wenn er Wasser haben wollte, stelle ich dir die Wasserflasche schon hin, während du noch nicht einmal weißt, dass du durstig bist. Was soll ich machen, als erfahrene Zweifach-Mama erkenne ich es eben sofort an deinem Blick.
Was für dich nach guter Verständigung klingt, hat aber fatale Folgen für deine Entwicklung. Oder wie sonst wäre es zu erklären, dass du nun bereits 15 Monate alt bist und noch kein einziges „saaa“ rausgebracht hast?! Alles fehlende Übung!

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Ach was habe ich mit K1 Bücher geguckt. Stunden über Stunden saß ich im Schneidersitz auf dem Boden und machte den Einjährigen unermüdlich mit den Muhs und den Wau Waus, mit den Baggern und den Rollern, mit den zappelnden Zappelmännern und den krabbelnden Schnecken vertraut. Du dagegen kannst schon vor Glück reden, wenn wir beide mal drei Seiten durchgucken können, ohne, dass ein fast Fünfjähriger bei jedem „wie macht der Esel?“ in ohrenbetäubender Lautstärke ein „IAAAA“ von der Couch brüllt.

In solchen Momenten möchte ich dem kleinen Klugscheißer am liebsten entgegenbrüllen: „Herr Gott nochmal, du bist fast fünf Jahre alt. Heute Morgen hast du mein Tablet entsperrt, deine Großmutter angezoomt und ihr über Videokonferenz gezeigt, wie du auf dem Tablet malen kannst. Denkst du, ich weiß nicht, dass du weißt, wie ein Esel macht?!“

Doch ich tue es nicht. Denn es scheint dir nicht das Geringste auszumachen, dass er uns wieder einmal unterbrochen hat. Du lachst ihn begeistert an und tapst ihm überall hinterher. Und es interessiert dich nicht eine Sekunde lang, dass ich dir eigentlich gerade etwas beibringen wollte. Denn du scheinst ganz genau zu wissen, von wem du am meisten in deinem Leben lernen kannst und wirst. Und SEINE Aufmerksamkeit musst du mit niemanden teilen. Diese hattest du sogar schon vor deiner Geburt. Was denkst du, wer dir deinen Namen gegeben hat?